Praxis-Reinartz-Blog

Gedanken und Gespräche

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Fehlentscheidungen Teil I

Alles läuft normal. Ein Leben, das mit Stationen aufwarten kann, die den Trauerredner erfreuen – er kann etwas erzählen vom Leben des Dahingegangenen. Über Fehlentscheidungen wird er nichts sagen. Sie tauchen nicht auf, bis zum Schluss nicht. Und doch sind sie da. Wie schleichendes Gift nehmen sie jedes Jahr langsam Lebenskraft, Lebensenergie und das Feuer in den Augen. Man schreibt es dem Alter zu. „Altern ist nicht schön“, wird gesagt, und Angst macht sich breit. Dabei wird übersehen, dass es das feurige Alter gibt, voller Lebenslust und Sinn in allem. Doch überall erloschene Augen. Fehlentscheidungen im Kleinen. Lebenslügen im Großen. Nicht, dass es keine Korrekturmöglichkeiten gegeben hätte, immer noch gibt. Doch alles wird schöngeredet, erklärt und es wird gesagt „es muss so sein“. Manchmal ein Zweifel, doch es fehlt der Mut. Das Leben selbst wird nicht müde, uns zur Korrektur zu bewegen. Immer wieder Angebote, vom leisen Schubser bis zum Schuss vor den Bug. Irgendwann ist es zu spät, aber das Leben selbst wird trotzdem nicht müde. Wir, die wir auf dem Fehlentscheidungspfad sind, schon. Wir haben keine Kraft mehr, etwas zu ändern. Wir werden schwach, alt und vielleicht sogar krank. Wir haben die Verbindung zu unserem Herzen und unserer Intuition verloren und sind verloren. Wir waren zu lange auf dem Fehlentscheidungspfad. Bleiben wir wachsam. Achten wir auf das, was uns begegnet. Lassen wir nicht zu, dass allzu viel Umtrieb verhindert, dass wir erkennen, was das Leben uns sagen will. Werden wir still.

Der Gefährte

Einige meiner Klienten erkennen in den gängigen Paarmodellen einen degenerativen Charakter und widersetzen sich. Sie haben es schwer, da sie Strukturen infrage stellen, die selbstverständlich und naturgegeben erscheinen. Sie suchen Gefährten. Keine Ehemänner oder -frauen und keine Partner. Gefährte. Dieser Begriff scheint stimmig. Der Gefährte ist frei und gibt frei. Gefährten spüren tiefe Verbundenheit und sind doch nicht gebunden. Sie spüren sich. Sie kennen sich. Die meisten Menschen spüren und kennen sich nicht, sie leben Modelle, die sie übernommen haben und laufen einem Bild von sich hinterher. Wer das nicht will, gilt sehr schnell als beziehungsunfähig, gescheitert. Gefährten haben keine Erwartungen aneinander. Sie nehmen die eigenen Bedürfnisse genauso ernst wie die des anderen. Sie muten Trennung zu, wenn Gemeinsamkeit nicht stimmig erscheint. Sie wissen, dass der andere dies nicht als Trennung erlebt, sondern als weitere Begebenheit im Leben. Leben als Perlenschnur von aneinandergereihten Begebenheiten. Gefährten wissen, dass der andere aus jeder Begebenheit lernen will. Sie wissen, dass der andere allein sein kann. Sie wissen, dass er Verantwortung übernimmt. Sie muten ihm äußere Trennung zu, wenn Gemeinsamkeit nicht stimmig erscheint und sind doch tief mit ihm verbunden. Wahre Gemeinsamkeit wiederum entsteht aus dem Moment. Dieser wird ausgekostet aber niemals herbeigeführt. Wahre Gemeinsamkeit als Geschenk des Lebens.
Es wurde das generische Maskulinum verwendet, um den Lesefluss nicht zu behindern. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass weibliche und andere Geschlechteridentitäten mit gemeint sind.

Filmszene

Sind wir offen für die Filmszenen in unserem Leben? Wie oft sind wir das nicht. Hetzen von einem zum anderen. Machen uns Sorgen. Doch plötzlich ist sie da. Eine eigentlich normale Szene: Der Gefährte begleitet mich noch zu meinem Auto bevor wir uns verabschieden. Wir stehen vor dem Wagen, er zündet sich eine Zigarette an. In der Nähe der Bahnhof. Es tröpfelt ganz leicht. Bei diesem Wetter niemand unterwegs. Dämmerung. Wir reden Belanglosigkeiten. Schweigen. Rauchschwaden um meinen Kopf. Würzig. Gut. Da ist sie die Filmszene. Jede Filmszene hat eine einzigartige Bedeutung im Film. Muss genau so sein. Eine Szene eingebettet in eine geniale Filmkomposition. Eine Szene in meinem Leben. Eingebrannt in mein Gedächtnis. Eine unglaubliche Atmosphäre. Ich werde ruhig. Momentaufnahme Leben.
Es wurde das generische Maskulinum verwendet, um den Lesefluss nicht zu behindern. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass weibliche und andere Geschlechteridentitäten mit gemeint sind.

Am See

Ich sitze am Ufer mit Daunenjacke. Es ist März, später Nachmittag. Zwei Frauen entkleiden sich nicht weit entfernt bis auf den Bikini und tasten sich ins kalte Nass bis zum Hals, kreischend, wenn auch nur kurz. Dann wieder Ruhe. Drei Enten laut tönend und flatternd über unseren Köpfen. Dämmerung senkt sich, am gegenüberliegenden Ufer Lichter und leise Partymusik. Junge Leute. Ich ruhe tief in meinem Kern, im Zentrum meiner Seele. Neben mir der Gefährte. Wir kauen Nusszopf und unterhalten uns leise oder schweigen. Tiefe Verbundenheit mit allem ohne Bezogenheit. Ruhend und beobachtend sitze ich da. Kein innerer Aufruhr durch Bezogenheit oder Erwartungen. Stattdessen ruhende Akzeptanz. Bezogenheit schafft Fesseln, Verbundenheit macht frei. Die meiste Zeit meines Lebens lebte ich in Bezug zu anderen. Überall unsichtbare Fäden, das Gefühl Erwartungen erfüllen zu müssen. Enttäuschungen, wenn Erwartungen nicht erfüllt wurden. Bedürftigkeit überall. Die Bedürftigkeit ist nicht weg. Aber sie tut nicht mehr weh. Sie befindet sich draußen vor dem Tor der Seele. Innen ist Fülle und Frieden. Vor dem Tor gibt es nur Kampf, Ziehen und Zerren. Ich kenne das. Auch mit dem Gefährten. Immer mehr jedoch berühren sich zwei Seelen. Verbundenheit ohne Bezogenheit. Bezogenheit will, Verbundenheit ist.
Es wurde das generische Maskulinum verwendet, um den Lesefluss nicht zu behindern. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass weibliche und andere Geschlechteridentitäten mit gemeint sind.

Reden

Mein Gesprächspartner sagt mir: „Mit dem Tod ist alles vorbei“. Ich wage zu sagen, dass diese Aussage eine starke Begrenzung beinhaltet. Er jedoch legt fest: er vermute, ich habe ein Problem mit dem Tod und er könne mir mal mehr darüber erzählen, warum Menschen Religionen brauchen. Ich möchte gar nicht über Religion sprechen. Ich möchte nicht über Kategorien sprechen. Es geht mir um Wahrnehmung. Diese erlebe ich als nicht begrenzt. Daher ist die Aussage, nach dem Tod ist alles vorbei, allein aufgrund ihrer Begrenzung bereits fehlerhaft. Sie widerspricht nicht Denkkategorien, die ich durchaus denken kann. Mein Kopf kann denken: Es könnte sein, dass das stimmt. Es könnte aber auch nicht sein. Der Kopf glaubt daher, dass er offen und ohne Begrenzung ist. Mein Gesprächspartner sagt, er sei ein offener Mensch, da er Möglichkeit A und Möglichkeit B denken und zulassen kann. Und doch handelt es sich um festlegendes Denken. Und in einem zweiten Schritt festlegendes Reden. Beides empfinde ich als anstrengend.
Das erkundende Reden ringt nach Worten. Worte können nicht genau und in Gänze das ausdrücken, was erkundet wird. Worte sind grob, ungenau. Ein Klient von mir sagte einmal, dass es möglich sein müsste, telepathisch zu kommunizieren, damit dieses Problem endlich gelöst sei. Erkundendes Reden sprengt immer Grenzen bzw. kennt keine Grenzen. Ist offen. Offen für noch nie Gedachtes. Legt nichts fest. Bleibt im Möglichkeitsraum. Alles ist möglich. Bleibt neugierig. Lehnt nichts von vornherein ab. Dahinter steht Gewahrsein. Gewahrsein findet jenseits von Gedanken statt und ist damit wahrlich unbegrenzt. Gewahrsein hat mit Demut zu tun. Demut vor dem Erleben, vor der Erfahrung. Der Austausch mit einem Gegenüber ist dann wenig anstrengend. Es gibt keine Bewertungen mehr. Nur demütiges Staunen. Wenn es keine Bewertungen gibt, gibt es auch keine Erwartungen.
Mein Gegenüber stellt fest: Das ist nicht gut, ohne Erwartungen gibt es nur noch Gleichgültigkeit. Ich merke, wie ich in die Welt der Gedanken gezogen werde. In die Welt der Diskussion. In die Welt des festlegenden Redens. Mein Gegenüber glaubt ein tiefes Gespräch zu führen. Ich jedoch merke, wie es anfängt mich anzustrengen. Diese Art tiefe Gespräche strengen mich sogar enorm an. Zumal ich auch noch spüre, dass mein Gegenüber stolz darauf ist und sich als interessanten Gesprächspartner wähnt. Seinen Selbstwert bedient, in dem Glauben interessante Fragen zu stellen.

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