Verena Karl, Eduard Sadžakov: Von Wölfen und Bären. Hochsensibilität, Autismus, AD(H)S & Co. mompox Verlag 2022

Die Autoren, eine Dipl. Sozialarbeiterin und ein Dipl. Sozialpädagoge, widmen sich mit reicher Erfahrung dem Thema der Neurodiversität. Unterstützt sehen sie sich in der Neurodiversitätsbewegung, die in den 1990er-Jahren entstand und für die Akzeptanz neurologischer Unterschiede als normale Ausprägungen menschlichen Seins einsteht. Den Kern neurodiverser im Vergleich zu in unserer Gesellschaft „normalen“ bzw. neurotypischen Ausprägung sehen die Autoren in der Wahrnehmungsfähigkeit, genauer in Unterschieden der sensiblen Wahrnehmung. Hochsensibel Wahrnehmende besitzen weniger Möglichkeiten, Wahrgenommenes zu filtern, die Autoren verdeutlichen dies mit dem Bild eines altmodischen Filterkaffees, bei dem eine Filtertüte mit deutlich gröberen Poren verwendet wurde. Kaffeesatz im Kaffee ist die Folge und ein störanfälliger Kaffeegenuss. Menschen mit einer „Kaffeesatzwahrnehmung“ erhalten nicht selten eine Diagnose wie AD(H)S oder Autismus-Spektrum-Störung. Hochbegabung dagegen wird nicht als Störung gesehen, ebenso wie das Temperamentsmerkmal der Hochsensitivität. Allen gemeinsam ist eine hochsensible Wahrnehmung. Bei Autismus, AD(H)S, Hochbegabung und Hochsensitivität gibt es daher Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, aber auch Unterschiede, welche im Buch nicht herausgearbeitet werden. Dies sei hervorgehoben. Hochsensitive werden sich nicht eindeutig im Text wiederfinden, da die Autoren insbesondere Erfahrung mit Menschen und Familien zu haben scheinen, die gesicherte Diagnosen im Bereich des Autismus-Spektrums haben. Dennoch kann das Buch für sie hilfreich sein:

Die Entwicklung der Metapher von Wölfen und Bären, wie der Titel bereits verrät, ist die entscheidende Stärke des Buches. Sehr eindrucksvoll mit vielen Beispielen versehen, beschreiben die Autoren unsere Gesellschaft als wölfische Gesellschaft, eine „Rudelgesellschaft“, die Menschen begünstigt, die in enger Gemeinschaft, Teams, Großraumbüros und Gruppenaktivitäten gut zurechtkommen und dort sogar Energie tanken. Der Bär in dieser Gesellschaft, der die (Winter-)Ruhe liebt und Einzelaktivitäten bevorzugt, fällt aus dem Raster und nicht selten Mobbing zum Opfer. Für Hochsensitive sind besonders auch die dargestellten „Überlebensstrategien“ interessant, mit denen „Bärenkinder“ auf unsere „Wolfsgesellschaft“ reagieren. Diese reichen von Grizzly-Bären als Kämpfernaturen und Rebellen über die stillen und extrem angepassten Panda-Bären bis hin zu den stark zurückgezogenen kleinen roten Pandas.

Das Buch möchte ermutigen und v.a. auch Schuldgefühle nehmen, nicht selten fühlen sich „Bärenfamilien“ falsch in dieser Welt und schuldig nicht neurotypisch zu funktionieren. Deutlich wird: Niemand würde sagen, dass mit einem Bären etwas nicht stimmt, wenn er alleine durch Alaska zieht, es ist eben ein Bär und kein Rudeltier wie der Wolf. Genau dies passiert jedoch in unserer Gesellschaft, das Verhalten der Bärenmenschen wird als nicht passend eingeordnet und im schlimmsten Fall pathologisiert, mit fatalen Folgen v.a. für das Selbstwertgefühl der hochsensiblen Wahrnehmer.

Manche Hochsensitive, so meine Erfahrung, müssen den „Bär in mir“ wiederentdecken, sind sie doch völlig an die Wolfsgesellschaft angepasst und zahlen nicht selten einen Preis, der sich z.B. in psychosomatischen Beschwerden äußert. Diese Hochsensitiven sind einem (Panda-)Bären im Wolfspelz vergleichbar und müssen diesen abstreifen und den Bären in sich wiederentdecken, gleich der in Alaska heimischen Inuit, die den Bären als ihren direkten Vorfahren und Seelenverwandten sehen (aus: 3-sat Dokumentation „Der Bär in mir“ mit dem Bärenforscher David Bittner vom 04.12.2023).

Noch weitergedacht: Menschen mit hochsensitivem Temperamentsmerkmal können mit ihrer hohen Empathiefähigkeit zwischen Wölfen und Bären vermitteln und so die Akzeptanz auf beiden Seiten stärken. Die Erfahrung in meiner Praxis zeigt, dass manche von ihnen dies bereits in ihren Familien tun, nicht selten bis zur völligen Überforderung und Erschöpfung. Hier benötigen sie eine gehörige Portion Eigenempathie und Abgrenzungsfähigkeit!