Praxis-Reinartz-Blog

Gedanken und Gespräche

Einsamkeit

Fiktiver Tagebucheintrag:

 „Die Einsamkeit war kaum zu ertragen und hielt Stunden an. Sie fraß sich in meine Brust wie ein Loch, ein Durchschuss. Es schmerzte körperlich, ein dumpfes Ziehen mitten in der Brust. Er hatte sich nicht gemeldet. Obwohl ich wusste warum, und es verstand, war da dieser Zweifel. Er machte sich lustig über mich? Verhöhnte mich? Lachte über meine Zuneigung? Ich hielt das alles kaum mehr aus und versuchte fieberhaft zu forschen, was in mir einsam war. Denn ich war nicht vollständig einsam, nicht mit meiner ganzen Person. Der Hinweis ließ nicht lange auf sich warten. Im Traum erschien mir mein Bruder. Ich hatte ihn schon lange verloren. Irgendwann fing er an, mich seltsam zu finden, weil ich anders war als er. Langsam schloss sich das Loch in meiner Brust. Das war es. Ich hatte es gefunden: Das verletzte Ich, das sich danach sehnte in Ordnung zu sein. Und es nie gezeigt bekam. Von niemandem in der Familie. Der Lächerlichkeit preisgegeben. Bis er kam.“

Auch jenseits gravierender Traumata können hochsensitive Menschen langfristig an den Folgen von Unverständnis durch nahe Bezugspersonen in ihrer Biografie leiden. Sie können die negative Seite einer Außenseiterrolle selbst dann erlebt haben, wenn sie im Außen überangepasst, offen, verständnisvoll, hilfsbereit und naiv bei anderen gut ankamen. Im Innern dagegen gähnende Leere, Misstrauen und die letztlich berechtigte Sehnsucht nach Kontakt zu ebenfalls hoch wahrnehmenden Mitmenschen, die berechtigte Sehnsucht nach Resonanz, Gleichklang und Verstandenwerden. 

Rezension

Verena Karl, Eduard Sadžakov: Von Wölfen und Bären. Hochsensibilität, Autismus, AD(H)S & Co. mompox Verlag 2022

Die Autoren, eine Dipl. Sozialarbeiterin und ein Dipl. Sozialpädagoge, widmen sich mit reicher Erfahrung dem Thema der Neurodiversität. Unterstützt sehen sie sich in der Neurodiversitätsbewegung, die in den 1990er-Jahren entstand und für die Akzeptanz neurologischer Unterschiede als normale Ausprägungen menschlichen Seins einsteht. Den Kern neurodiverser im Vergleich zu in unserer Gesellschaft „normalen“ bzw. neurotypischen Ausprägung sehen die Autoren in der Wahrnehmungsfähigkeit, genauer in Unterschieden der sensiblen Wahrnehmung. Hochsensibel Wahrnehmende besitzen weniger Möglichkeiten, Wahrgenommenes zu filtern, die Autoren verdeutlichen dies mit dem Bild eines altmodischen Filterkaffees, bei dem eine Filtertüte mit deutlich gröberen Poren verwendet wurde. Kaffeesatz im Kaffee ist die Folge und ein störanfälliger Kaffeegenuss. Menschen mit einer „Kaffeesatzwahrnehmung“ erhalten nicht selten eine Diagnose wie AD(H)S oder Autismus-Spektrum-Störung. Hochbegabung dagegen wird nicht als Störung gesehen, ebenso wie das Temperamentsmerkmal der Hochsensitivität. Allen gemeinsam ist eine hochsensible Wahrnehmung. Bei Autismus, AD(H)S, Hochbegabung und Hochsensitivität gibt es daher Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, aber auch Unterschiede, welche im Buch nicht herausgearbeitet werden. Dies sei hervorgehoben. Hochsensitive werden sich nicht eindeutig im Text wiederfinden, da die Autoren insbesondere Erfahrung mit Menschen und Familien zu haben scheinen, die gesicherte Diagnosen im Bereich des Autismus-Spektrums haben. Dennoch kann das Buch für sie hilfreich sein:

Die Entwicklung der Metapher von Wölfen und Bären, wie der Titel bereits verrät, ist die entscheidende Stärke des Buches. Sehr eindrucksvoll mit vielen Beispielen versehen, beschreiben die Autoren unsere Gesellschaft als wölfische Gesellschaft, eine „Rudelgesellschaft“, die Menschen begünstigt, die in enger Gemeinschaft, Teams, Großraumbüros und Gruppenaktivitäten gut zurechtkommen und dort sogar Energie tanken. Der Bär in dieser Gesellschaft, der die (Winter-)Ruhe liebt und Einzelaktivitäten bevorzugt, fällt aus dem Raster und nicht selten Mobbing zum Opfer. Für Hochsensitive sind besonders auch die dargestellten „Überlebensstrategien“ interessant, mit denen „Bärenkinder“ auf unsere „Wolfsgesellschaft“ reagieren. Diese reichen von Grizzly-Bären als Kämpfernaturen und Rebellen über die stillen und extrem angepassten Panda-Bären bis hin zu den stark zurückgezogenen kleinen roten Pandas.

Das Buch möchte ermutigen und v.a. auch Schuldgefühle nehmen, nicht selten fühlen sich „Bärenfamilien“ falsch in dieser Welt und schuldig nicht neurotypisch zu funktionieren. Deutlich wird: Niemand würde sagen, dass mit einem Bären etwas nicht stimmt, wenn er alleine durch Alaska zieht, es ist eben ein Bär und kein Rudeltier wie der Wolf. Genau dies passiert jedoch in unserer Gesellschaft, das Verhalten der Bärenmenschen wird als nicht passend eingeordnet und im schlimmsten Fall pathologisiert, mit fatalen Folgen v.a. für das Selbstwertgefühl der hochsensiblen Wahrnehmer.

Manche Hochsensitive, so meine Erfahrung, müssen den „Bär in mir“ wiederentdecken, sind sie doch völlig an die Wolfsgesellschaft angepasst und zahlen nicht selten einen Preis, der sich z.B. in psychosomatischen Beschwerden äußert. Diese Hochsensitiven sind einem (Panda-)Bären im Wolfspelz vergleichbar und müssen diesen abstreifen und den Bären in sich wiederentdecken, gleich der in Alaska heimischen Inuit, die den Bären als ihren direkten Vorfahren und Seelenverwandten sehen (aus: 3-sat Dokumentation „Der Bär in mir“ mit dem Bärenforscher David Bittner vom 04.12.2023).

Noch weitergedacht: Menschen mit hochsensitivem Temperamentsmerkmal können mit ihrer hohen Empathiefähigkeit zwischen Wölfen und Bären vermitteln und so die Akzeptanz auf beiden Seiten stärken. Die Erfahrung in meiner Praxis zeigt, dass manche von ihnen dies bereits in ihren Familien tun, nicht selten bis zur völligen Überforderung und Erschöpfung. Hier benötigen sie eine gehörige Portion Eigenempathie und Abgrenzungsfähigkeit!

Rezension

Julia-Teresa Steinborn: Wunderkinder Geschischten über Wunderkinder von 0-6 Jahren. Amazon Media EU S.à r.l. 2023.

Die Datenlage wissenschaftlicher Studien zu Hochsensitivität ist inzwischen überzeugend. Es handelt sich um ein angeborenes Temperamentsmerkmal, viele Menschen leben damit und sind jedoch gleichzeitig mit einer weniger sensitiven Umgebung und wenig Verständnis konfrontiert. Die Autorin, selbst hochsensitiv und als Erzieherin und Sozialpädagogin Fachfrau, gibt hochsensitiven Kindern eine Stimme. Die Geschichten berühren zutiefst, in Ich-Form geschrieben, geben sie eindrücklich Einblick in das Erleben hochsensitiver Kinder von 0-6 Jahre. Wir begleiten z.B. Lukas, den zornigen Drachen während seiner Wutanfälle oder Luna, die Schutz suchende Spitzmaus und erleben ihre Angst in der Kita. Die Autorin versteht es hochempathisch die Sichtweise der Kinder zu versprachlichen, so dass wir verstehen können. Sie selbst tritt in den Geschichten als Einhorn auf, das Familien mit hochsensitiven Tierkindern hilft und gibt damit metaphorisch Einblick in die Arbeit in ihrer Praxis Wunderkind Karlsruhe. Vor Ort in den Familien, aber auch im Kindergarten sucht sie gemeinsam mit allen Beteiligten nach Lösungen, damit die Hochsensitivität der Kinder gelebt und verstanden werden kann. Die Tiergeschichten zeugen davon eindrucksvoll. Es sind nicht nur Vorlesegeschichten, die für hochsensitive Kindern hilfreich sein können, auch Eltern, Erzieher und Fachleute, die mit hochsensitiven Kindern zu tun haben, können von den Wunderkinder Geschichten profitieren. Nicht zuletzt dürfen jedoch auch hochsensitive Erwachsene in ihre eigene hochsensitive Biografie zurückblicken und Selbstmitgefühl entwickeln.

Spitzenleistung und Hochsensibilität

Hochsensitive wollen Spitzenleistungen erbringen. So die langjährige Erfahrung mit hochsensiblen Menschen in meiner Praxis. Mir sitzen Klienten gegenüber, die für das Unternehmen alles geben, so als handle es sich um ihr eigenes. Unbemerkt vom Management bringen sie für ihren Bereich Spitzenleistung und ….. scheitern. Sie scheitern an sich selbst, da sie grundlegende Regeln im Umgang mit ihrer Neurosensitivität nicht kennen. Sie scheitern in erster Linie jedoch am Umgang des Managements mit Highperformern. Es drängt sich die Frage auf: Ist Spitzenleistung erwünscht? Ich höre von Mobbing, Bossing; vor mir sitzen Menschen mit AU-Bescheinigung, zum Psychotherapeuten geschickt. Der soll es dann richten. Das tut er auch, er kann Krankheiten mit Erfolg behandeln. Aber kann er hochsensible Menschen auch anpassungsfähig machen? Anpassungsfähig an eine Kultur, in der kreative, innovative und v.a. autonome Initiative und Bestleistungen nicht gefragt scheinen? Es fehlt an Wertschätzung, Begegnung aller Ebenen auf Augenhöhe und eine Kultur, die individualisiert Voraussetzungen für Bestleistungen schafft. Dafür sind Kenntnisse nötig. Beispielsweise Kenntnisse über Neurodiversität. Hochsensible gehören in die Unternehmen und nicht auf die Psychotherapeuten-Couch.

Boreout

Ein Boreout wird von einigen Wissenschaftlern als Burnout durch Entwicklungsmangel bezeichnet. Dem gegenüber steht das Burnout durch Überlastung – letzteres wird gemeinhin als Burnout bezeichnet. Ein Boreout kann sich entwickeln, wenn eines unserer Grundbedürfnisse, welches den Selbstwert betrifft (Schutz des Selbstwerts, Selbstwertsteigerung) über längere Zeit nicht mehr befriedigt werden kann. Betroffene fühlen sich dann nicht mehr kompetent und von anderen wertgeschätzt, sie können sich nicht weiterentwickeln und ihre Kompetenzen nicht mehr einsetzen.

Es gibt keine medizinische Definition beider Begriffe, d.h. es gibt keine psychiatrische Diagnose, die im medizinisch-therapeutischen Sinne gestellt werden könnte. Symptome, die von Betroffenen in einer Arzt- oder Psychotherapeutenpraxis genannt werden, sind im Falle eines Boreout Müdigkeit, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Magenbeschwerden und häufige Infekte. Es muss dann eine genaue Diagnostik erfolgen. Sowohl eine körperliche als auch psychische Erkrankung muss abgeklärt werden, erst danach kann unter Einbezug des Lebenskontextes entschieden werden, ob es sich um ein Boreout handelt. Dieses kann zusätzlich zu einer medizinischen Diagnose bestehen oder aber auch alleine auftreten. Die Einschätzung, ob es sich um ein Boreout handelt oder nicht, ist oft nicht einfach, da die zugrunde liegende Langeweile in einer leistungsorientierten Gesellschaft nicht unbedingt wertschätzend bewertet und daher vom Betroffenen nicht sofort berichtet wird. Drei Faktoren müssen in starker Ausprägung gleichzeitig über einen längeren Zeitraum auftreten, um von einem Boreout sprechen zu können: Erstens Langeweile, ausgelöst durch monotone Arbeit oder Mangel an Arbeit und zweitens die damit eng zusammenhängende Unterforderung. Drittens Desinteresse. Gemeint ist hier das mangelnde persönliche Interesse an der Arbeit, welche dann natürlich nicht selbstwertstärkend und zur inneren Weiterentwicklung führen kann. Dies wirkt sich u.a. auf die Leistungsmotivation aus. Arbeit wird vermieden, was jedoch verheimlicht wird. Da die gravierende Unzufriedenheit nicht kommuniziert wird, kommt es in der Folge zu einem Teufelskreis, der die Boreout-Symptomatik immer weiter verstärkt.

Betroffene müssen ihr Boreout ernst nehmen, was jedoch oft nicht der Fall ist. Gesellschaftlich anerkannt ist der Begriff Burnout, nicht der Begriff Boreout. Daher kann es Sinn machen, das Boreout als Burnout durch Mangel an Entwicklung zu identifizieren. Betroffenen wird so deutlich, dass sie ernst zu nehmende Symptome haben. Auch kann ein Burnout und damit auch Boreout in eine psychische Erkrankung wie Depression übergehen. Schon aus diesem Grund sollte es ernst genommen werden. Die Entwicklung eines Boreouts ist ein längerer, schleichender und unbemerkter innerer Prozess, in dem eigene Bedürfnisse und Intentionen ignoriert wurden. Verstärkt wird dieser Prozess dann, wenn Betroffene der irrigen Meinung verfallen, es sei schlau, nichts zu tun zu haben, i.S. von „dann kann ich private Dinge in der Arbeitszeit erledigen“. Langfristig können Betroffene daraus jedoch keinen Mehrwert schöpfen, da das Bedürfnis nach Anerkennung, Selbstwertsteigerung und Weiterentwicklung ignoriert wird. Es geht also letztlich darum, sich selbst mit seinen Bedürfnissen ernst zu nehmen.

Eine Entwicklungsaufgabe, der wir uns gewachsen fühlen und die uns gleichzeitig wachsen lässt, löst positiven Stress aus. Wir fühlen uns voller Energie, sind leistungsfähig und konzentriert bei der Sache. Und das wichtigste: Wir entwickeln uns weiter. Dies kann eine innere Weiterentwicklung sein, etwa eine neue Erkenntnis, aber auch eine äußere wie z.B. eine Beförderung. Am besten wäre eine Tätigkeit, die auch für die Freizeit vorstellbar und für die eine intrinsische Motivation entwickelt werden kann. So gesehen scheint tatsächlich ein Berufswechsel manchmal die einzige Möglichkeit und ist es auch teilweise. Da Betroffene jedoch in passiven Vermeidungsstrategien wie z.B. beschäftigt zu wirken, obwohl das nicht der Fall ist, gefangen sind, sollte zunächst zu aktiven Bewältigungsstrategien gewechselt werden. Dies heißt insbesondere das Gespräch v.a. mit Vorgesetzten zu suchen. Möglicherweise benötigen Betroffene im besten Fall lediglich die Hilfe von Vorgesetzten oder ein Kommunikationscoaching. Schwieriger gestaltet es sich, wenn Müdigkeit, Erschöpfung und Gereiztheit bereits starke Ausmaße angenommen haben, sodass der Zugang zum eigenen Inneren blockiert ist. Dann kann es helfen, die Blockaden mithilfe einer in Beratung, Coaching oder Psychotherapie ausgebildeten Person zu lösen. Der Zugang zu den eigenen Intentionen und Bedürfnissen muss gleich einer verschütteten Quelle freigelegt werden. Die Kraft der Intuition, die ein Wegweiser in Richtung erfüllende und sinnvolle Entwicklungsaufgaben in diesem Leben (und möglicherweise sogar beim jetzigen Arbeitgeber!) sein kann, muss (wieder-)entdeckt werden. Möglicherweise benötigen Betroffene Unterstützung darin, dass sie erkennen können, dass das Leben mehr für uns bereithält, als Zeit (pfiffig) totzuschlagen.

Blog 2022

Mein Blog 2022 ist inspiriert durch den Kontakt mit meinen Klientinnen und Klienten. Kern der Hochsensitivität ist die Vielwahrnehmung bzw. ein breiteres Spektrum der Wahrnehmung. Damit einher gehen immer auch spezifische Bedürfnisse, die erkannt und ernst genommen werden müssen, damit ein kraftvolles Leben gelingen kann.

Hochsensitive brauchen hochbewusste Vielwahrnehmende in ihrem Leben. Meist erleben Neurosensitive im Gegenteil leider wenig Verständnis. Aufgrund ihrer empathischen Fähigkeiten geben sie dann oft mehr, als sie zurückbekommen. Dies kann, durch biografische Erfahrungen noch verstärkt, das Leben dominieren und in gravierenden Lebensfehlentscheidungen münden, wie in „Fehlentscheidungen I und II“, aber auch in „Unter Menschen“, deutlich wird. Vielwahrnehmende spüren in diesem Fall die Bedürftigkeit anderer besonders stark und bieten wie selbstverständlich empathische Begleitung an, oft ohne ein Bewusstsein für eigene Impulse und Intentionen. Andere Vielwahrnehmende ziehen sich gänzlich zurück und bleiben allein in einer gefühlt sehr kalten Welt zurück. Nicht selten sind sie wütend, wütend auf eine Welt, die ihre Bedürfnisse nicht einmal ansatzweise wahrnimmt („Unter Menschen“). Vielwahrnehmende brauchen die Erfahrung, dass sie verstanden werden und sein dürfen, ohne etwas geben zu müssen. Sie brauchen die Erfahrung, dass das Gegenüber sich seiner eigenen Bedürftigkeit bewusst ist, damit umgeht und nichts erwartet, wie in „Der Gefährte“, „Am See“ und „Endlos“ deutlich wird. Dann sind Vielwahrnehmende in großer Freiheit verbunden mit anderen und leben in ihrer Kraft. Dann kann auch der Raum geöffnet werden für intensive Momentaufnahmen, intensives Erleben im Hier und Jetzt und achtsames Gewahrsein, wie es in „Filmszene“ deutlich wird.

„Unter Wasser“ und „Abschied“ berühren, neben der für viele Vielwahrnehmende wichtigen Offenheit für Spiritualität, einen weiteren Aspekt der Hochsensitivität, den ich die „gefühlte Stimmigkeit“ nenne. Eine wichtige Qualität der Wahrnehmung, die oft zu wenig in die Persönlichkeit integriert wurde, da von außen oft abgewertet. Dem Chef zu sagen „Ich bin dagegen, weil ich kein gutes Gefühl habe“, ist meist schwierig und kommt nicht gut an. Vielleicht gibt es aber in Zukunft immer mehr Führungspersonen, die hochsensitive Qualitäten der Wahrnehmung in ihren Führungsstil einbeziehen. Nicht zuletzt sollte mein Interview im Oktober 2022 in ZEIT ONLINE ARBEIT „Eine kluge Chefin erkennt die Hochsensibilität als Potenzial“ dazu beitragen.

Ich wünsche uns für das neue Jahr 2023, dass immer mehr hochsensitive Menschen sich ihrer wertvollen Gabe bewusst werden und sie selbstbewusst leben.

Unter Menschen

Ich fühle mich fremd und allein unter Menschen. Ich verstehe sie nicht. Verstehe ihre Handlungen nicht. Wie kann das sein? Wie können Menschen so sein? Ich habe zwei Möglichkeiten: Ich gebe mich nett, freundlich, verständnisvoll, geduldig. Versuche alles zu verstehen, bin zuvorkommend und bleibe dabei unnahbar. Ich sage nie, was ich denke, manchmal weiß ich es selbst nicht, so sehr bin ich damit beschäftigt, mich anzupassen ohne eigene Meinung. Obwohl mich alle Welt mag, bin ich tief in mir allein. Die zweite Möglichkeit ist Wut. Offene oder innere Wut. Ich rebelliere offen oder ärgere mich insgeheim über die immer gleichen Gewohnheiten anderer, die mich immer mehr nerven. Ich wende mich ab von anderen, kann sie nicht mehr ertragen. Auch dann bleibe ich allein. Das tief in mir liegende Bedürfnis nach Gefährten, die verstehen, was mich bewegt, bleibt schmerzlich bestehen. Vielleicht müssen wir wagen, uns anzuvertrauen, um sie zu finden, die wahren Gefährten.

Endlos

„Es muss sich endlos anfühlen“, sagt mein Gegenüber. Endlos. Meine Tage fühlen sich nicht endlos an. Ein Termin nach dem anderen. Erledigungen. Verabredungen. Getaktet. Ein Leben nach der Uhr. Es geht nicht anders. Geht es wirklich nicht anders? Natürlich gibt es Dinge, die erledigt werden müssen. Und jenseits dessen? Wir sitzen uns gegenüber, weil wir uns verabredet haben. Irgendetwas stimmt jedoch nicht. Mein Gegenüber hat den Mut, es auszusprechen: „Es muss sich endlos anfühlen, und das hat es nicht“. Mit unserer Verabredung haben wir uns begrenzt. Haben entsprechend geplant. Geplant. Planung fühlt sich niemals endlos an. Wir wollten nicht kurzfristig absagen, wollten den jeweils anderen nicht enttäuschen. Wir sind uns einig, dass dies falsche Rücksichtnahme war, aber wir gehen noch einen Schritt weiter. Was, wenn wir uns nicht mehr verabreden würden? Ein Experiment. In der Freizeit frei sein. Ein interessantes Wortspiel. Ich werde neugierig. Ein Experiment, das viel voraussetzt: die Fähigkeit, allein mit sich sein zu können, Vertrauen, keine Erwartungen, Spontaneität und Authentizität. Wir werden uns weiterhin treffen. Ich freue mich darauf.

Abschied

Abschied

Ich habe Tränen in den Augen. Es gibt keinen Konsens mehr. Mein Gegenhörer am Telefon ist weit entfernt. Unüberwindliche Gräben. Kein Entkommen. Unverrückbar die Trennung. Zwei Welten, zwei Sterne. Ich liebe mein Gegenüber, jahrelang ein treuer Begleiter, Helfer in der Not. Nun ist er gefangen, ein Gefangener seiner Konzepte und Gedanken. Ich erreiche ihn nicht mehr. In meiner Brust ein Brennen. Ich will da nicht stehen bleiben. Will akzeptieren. Will verbunden bleiben. Im Außen geht das nicht mehr. Geht es im Innen? Ich taste mich heran. Die tiefe Verbundenheit über all die Jahre, ist sie weg? Ich stelle mir vor, dass seine und meine Seele größer sind als alles hier auf Erden. Die Seele ein Feld, das sich immer mehr ausdehnt. Seins und meins. Irgendwo da oben treffen sich beide. Dort spüre ich die Verbundenheit. Dort hat sie Bestand. Für immer.

Unter Wasser

Ich tauche ein. Sonnenfarbenspiel, Geblubber in meinen Ohren. Schön. Sehr schön. Magisch. Aber da gibt es noch etwas anderes: Es gibt nur noch mich. Doch wer bin ich? Bin ich meine Gedanken? Bin ich meine Gefühle? In diesem Moment sind sie alle weg. Bin ich dann auch weg? Nein. Also bin ich weder meine Gedanken noch meine Gefühle. Diese sind schwankend. Unbeständig. Es kann nicht sein, dass ich das bin. Ich bin dahinter. Und genau das spüre ich unter Wasser. Da bin ich. Die, die dahinter ist. Plötzlich ist erlebbar, dass die These, eine Seele inkarniert sich hier in dieser dreidimensionalen Welt, stimmen könnte. Ich erlebe mich als Seele, die von irgendwo her sich in einem Embryo inkarniert. So muss sich das anfühlen: das Geblubber, keine Gedanken, keine Gefühle. Nur Sein.

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